Wenn die Tage nicht mehr so fröhlich dahingleiten, dann erinnert man sich dankbaren Herzens an das viele Schöne, das man erleben durfte.
Mein Mann Karl-Heinz behauptete vor langer Zeit, glücklich könne man nicht sein, nur im Nachhinein empfinden, dass man glücklich war.
Ich habe ihm widersprochen, denn es gab Augenblicke in meinem Leben, in denen ich empfand, wusste: jetzt bin ich glücklich.
Im Arbeitsdienst, eingesperrt und zutiefst unglücklich, erhielten wir unsere ersten Ferien an Pfingsten 1939. Mit zwei Kameradinnen, mit denen ich die gleiche Wellenlänge hatte, machte ich einen Ausflug nach Rothenburg. Wir waren knapp bei Kasse, unser Lohn (20 Pfennig pro Tag) hatte gerade für Fahrt und Übernachtung gereicht. Unser einziges Essen war eine Dose Heringe in Tomatensauce für uns Drei zum Frühstück.
Es stimmt wohl, dass das Hungern die Menschenseele empfänglicher macht für geistige Erfahrungen. Wir hatten die liebenswürdige Stadt erlaufen, auf dem Wehrgang umrundet, uns lange in der Kirche vor den gotischen Altären niedergelassen.
Schließlich kamen wir bei Sonnenuntergang auf ein Plateau, wo wir über das Toplerschlößchen weit ins Taubertal, bis Greglingen schauen konnten. Und in dem Augenblick war ich glücklich, so eins mit der Natur, mit Gott, mit den Freundinnen, leicht wie ein Vogel, ja - meine Seele spannte weit ihre Flügel aus. Bei der Erinnerung fühle ich heute noch das gleiche Glücksgefühl.
Als ich in Bayreuth am Jean-Paul-Gymnasium unterrichtete, machte ich an einem windigen rauen Vorfrühlingstag einen Ausflug ins Ungewisse. Lange war ich auf der geteerten Straße dahingelaufen, kalt bis ins Herz, heimwehkrank, traurig. Da bog es mich von der Straße ab, einen Abhang hinunter, und ich war mitten im Paradies:
Der junge Main plätscherte durch ein liebliches Tal. Grüne Wiesen, Sonnenschein, kein Lüftchen regte sich. Es war wohlig warm, und unzählige liebliche Frühlingsblumen blühten um mich herum: Goldstern, Sumpfdotterblumen, Anemonen; ein lichtes Buchenwäldchen, blau von Leberblümchen; duftender Seidelbast.
Ich war überwältigt vor Freude. Ich kniete mich zwischen diese Frühlingsboten und streichelte sie, küsste sie, sprach mit ihnen. Ich war nicht mehr allein und traurig, ich war eine Blume unter Blumengeschwistern. Ich war glücklich.
Mit zwei vierzehnjährigen Schülerinnen machte ich von Erlangen aus einen Ausflug nach Vierzehnheiligen. Anneliese, Schülerin aus Bayreuth, traf mich und Jutta in Staffelstein am Bahnhof. Wir wanderten zu dritt den wunderschönen, leicht ansteigenden Weg hinauf zum heiligen Veit von Staffelstein. Auch wir sahen die Lande um den Main vor uns liegen, blickten über den Grabfeldgau nach Schloss Banz, mehr noch auf den üppigen Randbewuchs des Pfades, "Un"-Kraut, und doch so lieb. Wer kennt sie, die unscheinbaren Ruderalp-Pflanzen: Taubenkropf, Hellerkraut, Klappertopf?
Es zeigte sich, dass der Erlanger Biologielehrer der Bessere gewesen war. Und die Rivalität der beiden Mädchen, nicht böse - liebenswert. So müssen die Schüler des Sokrates um die Gunst ihres Lehrers geworben haben! Wie verdiente ich diese Liebe, die so schüchtern, so demütig dargeboten ward? Ich, kaum zehn Jahre älter als die beiden Mädchen, fühlte mich mehr als ihre Schwester denn als ihre Lehrerin, und dennoch im heiligen Eros verpflichtet, diese zwei Seelen zum Wahren, Guten und Schönen zu führen.
Vierzehnheiligen, so schön es auch war, blieb weit hinter den Erlebnissen des Weges zurück. Schloss Banz schafften wir nicht mehr, Annelieses Zug ging schon früher. Ich lag bis zur Abfahrt unseres Zuges mit Jutta in einer Blumenwiese. Auf diesem Weg hinauf nach Vierzehnheiligen, über dem Klappertopf, hat es mir das Herz zusammengezogen vor Glück. Anneliese habe ich aus den Augen verloren, mit Jutta wurde es eine Freundschaft fürs Leben.
Karl-Heinz Beutler war aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft nach München gekommen. Da lernte ich ihn im Haus seines Bruders Rudolf Beutler, meines Lehrers von der Universität, kennen und verliebte mich in ihn nach dem "ich kam, sah und siegte" - Prinzip. Es gab viele Schwierigkeiten und Entfremdungen. Schließlich fanden wir uns doch wieder und vereinbarten eine gemeinsame Inselfahrt. Ich war in der Blütenstraße bei der Großfamilie, Karl-Heinz und ich sprachen in Geheimzeichen von unserem Plan, so als ob jeder etwas ganz anderes vorhätte. Dann begleitete mich Karl-Heinz zur Straßenbahn an der Haltestelle Universität.
Dort stieg der gestandene Mann von 42 Jahren auf den Rand der Schüssel des Universitätsbrunnens und lief darauf im Kreis herum, wie es die kleinen Kinder machen, und strahlte vor Freude. Und ich hielt ihn an der Hand und lief unten am Boden mit herum und wusste: Wie es auch werden wird; jetzt in dieser gemeinsamen Vorfreude, in der Erwartung auf die Gemeinsamkeit, bin ich glücklich.
Mit meinem Mann Karl-Heinz und unserem etwa acht Jahre alten Sohn Michael waren wir auf den Schuttberg - beliebtes Münchener Ausflugsziel - gegangen. Wir standen unter vielen Besuchern am Gipfelkreuz und schauten auf München, ein weiter Blick über die Dächer und Türme bis in die Berge. Ich war so wehmütig glücklich, dass ich noch lebte, dass ich in München leben durfte. Am liebsten hätte ich die Arme ausgebreitet, aber ein Erwachsener macht sich damit ja lächerlich.
Da stand mein Bub plötzlich neben mir, breitete die Arme aus, und mit leuchtenden Augen sprach er laut und mit freudig bebender Stimme: Meine geliebte Heimatstadt!
Ich empfand das nicht als theatralisch. Ich schloss ihn in meine Arme, wir waren Eins in unserer Liebe. Ich war glücklich.
Mit unserem zehnjährigen Michael besuchten wir in den Schulferien im Elsass in Straßburg das Münster. Wir standen im Münster und schauten auf die berühmte Rosette, ich dachte an Goethe und war weihevoller Stimmung. Mein sonst so lebhafter Michael war mäuschenstill.
Plötzlich seufzte er, ergriff meine Hand und sagte in tiefer Bewegung: Ach Mama!
Das Kind hatte es auch gespürt, ich hatte ihm vorher nichts erzählt. Dieser Gleichklang unserer Seelen! Glück - tief dankbares Glück.
Mit acht Jahren bekam ich Zither-Unterricht, eine Quelle reinen Vergnügens für mich. Die Eltern mussten mich nie zum Üben antreiben, sondern vielmehr vom Instrument losreißen. Jeden Abend gab es bei uns Hausmusik: Meine Schwester Lore und ich zitherten, unsere Mutter begleitete uns auf der Gitarre. Wenn möglich, sangen wir dazu dreistimmig, von unserem Vater aus dem Hintergrund unterstützt. Später bekam ich von meinem sehr einfühlsamen Musiklehrer auch Unterricht in Harmonielehre, wurde in die Technik des Komponierens eingeweiht. Selbst brachte ich mir das Gitarre- und das Klavier-Spielen bei, nahm auch Gesangsunterricht, war eifriges Mitglied im Kirchenchor. Auf der Zither hatte ich es schließlich zur Konzertreife gebracht.
Da kam mit meiner Heirat ein jähes Ende: Mit Beruf, Ehemann, Kleinkind und Haushalt ließ sich das Musikleben nicht mehr vereinbaren. Kurze Versuche mit der Zither bescherten mir eitrige Blasen an den Fingern. Ein Klavier fand in der Wohnung keinen Platz. Außer Singen blieb mir nichts mehr, und selbst das war in der hellhörigen Wohnung ein Problem. So nagte ich nahezu 15 Jahre lang musikalisch am Hungertuch.
Eines Tages besuchte mich mein ehemaliger Musiklehrer Franz Holzfurtner. Ich holte meine Zither hervor, Franz begleitete mich auf der Gitarre. Nach so langer Zeit ging es wie am Schnürchen - meine Finger erinnerten sich! Ich war wie in einem Rausch. Zuletzt fielen Karl-Heinz, Franz und ich uns begeistert in die Arme. Unaussprechlich glücklich war ich!
Aus unserem Plan, alle Monate wenigstens ein Mal miteinander zu musizieren, wurde leider nichts: Franz starb wenige Wochen später an Angina Pectoris. Ohne seine Anregung verwelkte das zarte Pflänzchen Musica. Ich habe seit dem meine Zither nicht mehr hervorgeholt. Immer wenn wir von Franz Holzfurtner reden - das geschieht oft und wehmutsvoll -, denken wir an diese musikalische Sternstunde.
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